..all die schönen Erzählungen aus der Feder eines weißen Mannes

Karl May und die kritische Erinnerungskultur

Autorin: Luca Pretz

Es ist eine neue Debatte über Cancel Cultur und Diskriminierung entstanden. Es geht um Bücher von Karl May (1842–1912) und die Weiterentwicklung seiner bekanntesten Erzählung „Winnetou“. Und am lautesten schreien und beschweren sich in den Kommentarspalten und auf Twitter natürlich: die Deutschen.

Karl May, einer der bekanntesten Autoren von Reiseromanen seiner Zeit, beschrieb in seinen Winnetou-Büchern die Geschichte zwischen dem indigenen Häuptling Winnetou und seinem weißen Freund und Blutsbruder Old Shatterhand geht – fiktiv, wohlgemerkt. Noch heute herrscht eine große Begeisterung für diese Erzählungen. Als im August diesen Jahres der Verlag Ravensburger ein Winnetou-Kinderbuch und einen dazugehörigen Film ankündigt, ist die Kritik groß. Dem Verlag wird kulturelle Aneignung, Redfacing und das Verbreiten von rassistischen Stereotypen vorgeworfen. Der Verlag handelt und nimmt das Buch vom Markt, der Film wird jedoch in deutschen Kinos ausgestrahlt.

Der Aufschrei der Deutschen ist groß, als hätte man ihnen ein Stück ihrer Kultur geraubt, höhnisch, nicht? Wie kommt es also, dass Politiker*innen wie beispielsweise Markus Söder und Sigmar Gabriel auf Karl May’s Winnetou beharren, als hänge ihre komplette Identitätspolitik davon ab? Es geht um Verbotskultur, kulturelle Wertschätzung und kulturelle Aneignung und Erinnerungskultur. Darum, wie wir heute noch an Karl May und Winnetou, an Freundschaft und den Wilden Westen erinnern können, gleichzeitig aber in Betracht ziehen müssen, dass die deutschen Karl-May-Fans ihren Spaß und ihre Spiele auf dem Rücken anderer ausleben.

Die Geschichte von Winnetou und Old-Shatterhand

Die Winnetou Bücher entstanden in einer Zeit, in der die Welt in Aufruhr war. Die Hochindustrialisierung war in vollem Gange, Land- und Stadtbild veränderten sich, die Menschen lebten und arbeiteten auf engstem Raum, oft unter elenden Bedingungen. Erzählungen von der großen weiten Welt, von Reisen, von dem Unbekannten schafften eine willkommene Abwechslung. Doch so großartig und fantasievoll May auch zu schreiben vermochte, das Leben des Autors war geprägt von vielen Rückschlägen, Armut und Kriminalität. Seine Fantasie kannte jedoch kaum Grenzen, wodurch er Geschichten erzählen konnte, von Dingen, die er noch nie gesehen hatte, Orten an dem er noch nie war, die doch so detailliert und ausgeschmückt waren, dass seine Bücher zu den meistverkauften Reiseerzählungen gehören.

Sie wurden mehrfach verfilmt, es wurden Comics geschrieben, Brett- und Kartenspiele erfunden. Es gibt Museen und Stiftungen, die an das Erbe von Karl May erinnern, Straßen und Spielplätze, die nach ihm benannt sind. Freizeitdörfer für Kinder und Erwachsene, Filmfestspiele und Fanshops, in denen es Taschen, Flaschen und Schlüsselanhänger gibt. Noch heute feiern Millionen Menschen Karls May und seine Werke.

Muss etwas, das so großen Erfolg hat, Erwachsenen noch heute nostalgische Kindheitserinnerungen und ein Lächeln auf die Lippen zaubert und vielen Kindern Freude schenkt, hinterfragt und kritisiert werden? Sind es nicht einfach nur fiktive Geschichten, die von Träumen und der großen Freiheit handeln? Geht es in Winnetou nicht um die Freundschaft zwischen Menschen und Völkern, handelt es nicht um Humanismus und die Gleichwertigkeit von Menschen? Mit Sicherheit! Doch durch all die schönen Erzählungen aus der Feder eines weißen Mannes werden die Gräueltaten fast vergessen, die die Weißen an den Indigenen ausgeübt haben.

Das koloniale Kinderbuch

In der Geschichte des jungen Häuptling Winnetou geht es auch um Freundschaft, es ist ja auch ein Kinderbuch. Kritische Stimmen werfen dem Verlag Ravensburger jedoch vor, Stereotypen abzubilden, Diskriminierung von indigenen Völkern zu relativieren, Redfacing zu betreiben und kolonialistische Machtstrukturen zu relativieren und unterschwellig zu verbreiten. Es stellt sich die Frage, ob nach all den Jahren und Debatten über Rassismus und Diskriminierung, über Blackfacing und kulturelle Aneignung, nach den ständigen Kämpfen durch marginalisierte Gruppen nochmals ein solches Buch veröffentlicht werden muss, welches sich dieser stereotypen Vorstellungen und Diskriminierungen bedient. Im Zuge dieser Debatte fällt jedoch auf, dass in keinem der Winnetou Bücher thematisiert wurde, wie Indigene durch Massenversklavung, Massenvergewaltigung, gezielte Vernichtung, erzwungene Assimilation gefoltert und fast ausgerottet wurden.

Ist uns die Wahrheit so egal? Ist es wichtiger, unserer Fantasie freien Lauf lassen zu können, uns in den „Wilden Westen“ hineinträumen können, ganze Dörfer nachbauen, in denen wir fröhlich Cowboy und „Indiander“ spielen können, aus Nostalgie und auf dem Rücken derer, die betroffen sind? Was bleibt, ist die Frage nach der Notwendigkeit. Denn es geht nicht um Verbotskultur, sondern darum, ob wir unsere Erinnerung verschleiern wollen, oder anfangen, der historischen Wahrheit ins Auge zu blicken.

Literatur

Loock, Kathleen (2019): Remaking Winnetou, reconfiguring German fantasies of Indianer and the Wild West in the Post-Reunification Era. In: Communications. 2019, vol. 44, no. 3, S. 323-341.