Die „Z*mission“: Leerstellen im stadträumlichen Gedächtnis über das Leben von Sinti:zze und Rom:nja in Berlin
Bei Recherchen zu einem anderen Projekt, welches sich mit dem Afrikanischen Viertel im Wedding befasst, staunte ich nicht schlecht, als ich auf einen Artikel aus dem Gießener Anzeiger aus dem Jahr 1929 stieß, der im Detail von sogenannten „Zigeunerdörfern“ berichtete, die sich im Norden Berlins (Wedding, Reinickendorf, und Weißensee, heute Pankow) befanden. Laut dem Artikel, der zeittypisch vor antiziganistischen Stereotypen, Vorurteilen und Fremdzuschreibungen nur so strotzt, hätten sich an der Afrikanischen Straße und der Kameruner Straße „in den letzten Tagen […] einige hundert Zigeuner mit Sack und Pack niedergelassen“.
Die problematischen Hintergründe rund um die Straßennamen im Afrikanischen Viertel sind hinreichend bekannt. Aber, dass hoch oben im nördlichen Stadtrand, Heimat für Arbeiter:innen, Mittellose und Verdrängte, eben auch Sinti:zze und Rom:nja wohnten, ist zwar naheliegend, aber wesentlich weniger erforscht.
Dass Ziel der „Zigeunermission“ (im Folgenden nur noch „Z*Mission“) der Berliner Stadtmission, war es, den „lieben Heiland“ unter die Berliner Sinti:zze und Rom:nja zu bringen. Auf einem alten Foto aus dem Bundesarchiv ist die Z*Mission abgebildet. Vor einem Haus spielen Kinder auf einer Wippe und einer Schaukel. Über den Fenstern prangt der folgende Spruch: „Die Heiden möchten in seinem Lichte wandeln“.
Und mir stellte sich bei der Betrachtung des Fotos, wie auch schon beim ersten Lesen des Zeitungsartikels, erneut die Frage: Wieso weiß ich nichts von der Missionsarbeit im Norden Berlins? Dementsprechend beschloss ich, mich dieser Leerstelle für dieses Forschungsprojekt zu widmen und tauchte ab in knapp 30 Jahre Geschichte der Z*Mission der Berliner Stadtmission.
Ein kritischer Blick auf die Missionsarbeit mit Sinti:zze und Rom:nja
Die Berliner Stadtmission wurde 1877 von Hof- und Domprediger Adolf Stoecker (1835-1909) gegründet, der dem Verein eine stark antikapitalistische, antisozialistische und antisemitische Ausrichtung gab. In den 1870er-Jahren hatte sich die Berliner Bevölkerung zu Teilen von Glauben und Kirche entfremdet, dem wollte Stoecker entgegenwirken. Die Berliner Stadtmission konzentrierte sich zunächst auf Sonntagsschulen, um über die Kinder auch die Eltern zu erreichen. Durch das immense Wachstum Berlins im Zuge der Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts verschlechterten sich die sozialen Bedingungen in der Reichshauptstadt erheblich. Die meisten Menschen lebten unter elenden Bedingungen in riesigen Mietskasernen; staatliche soziale Einrichtungen gab es noch nicht. Schon bald erweiterten sich die Arbeitsbereiche der Berliner Stadtmission. Die Mission setzte sich für die Versorgung von Obdachlosen, Kranken und Arbeitslosen ein und bot vielfältige Hilfsangebote wie Suppenküchen, Kleiderkammern und Seelsorge. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte sich die Berliner Stadtmission fest in der städtischen Wohlfahrtslandschaft etabliert und spielte eine entscheidende Rolle bei der Linderung sozialer Not in der wachsenden Metropole. Teil der Arbeit der Berliner Stadtmission war ab 1910 auch die Missionierung der Sinti:zze und Rom:nja, beginnend mit der Etablierung einer eigenen Z*Mission im Wedding.
Betroffene der Missionsarbeit
Die Fremdzuschreibung durch die Missionar:innen der Sinti:zze und Rom:nja mit dem Z-Wort suggeriert eine Gruppenhomogenität, die es so nicht gab (und gibt). In einigen wenigen Berichten der Missionar:innen lässt sich dennoch etwas über die Sinti:zze und Rom:nja (im Norden) Berlins herausfinden:
„Aus den verschiedensten Landesteilen kommend, leben sie hier bunt zusammengewürfelt. Nicht nur aus Thüringen, der dänischen Grenze oder dem Rheinland, sondern aus Rumänien sogar sind sie hierher verschlagen worden, in das große Berlin.“
(Die Stadtmission 1919, 110)
Die Missionar:innen berichten von unterschiedlichen Gruppen von Sinti:zze und Rom:nja, von denen „drei Zigeunerstämme besonders in Berlin vertreten [sind], die Romungris (Musikzigeuner), die Romanus (Pferdehändler) sowie die Telterarjas (Kesselflicker).“ (Die Stadtmission 1936, 56) Dabei wird auch angemerkt, dass die verschiedenen Gruppen unterschiedliche, wenn auch verwandte Sprachen haben. Die Missionarin Maria Knak beschreibt zwar, dass sich die Menschen, mit denen sie arbeiten, selbst „Zinti oder Sinde“ (Knak 1935, 28) nennen, zieht es dann aber doch vor, weiterhin das Z-Wort zu benutzen. Auch für den vorliegenden Text soll festgehalten werden, dass mit der Beschreibung „Sinti:zze und Rom:nja“ eine Art kohärente Gruppe suggeriert wird, die aber in Realität sehr viel diverser ist. In Deutschland leben zwar hauptsächlich Sinti, jedoch gibt es auch Indizien dafür, dass Roma sich in Berlin zu dieser Zeit aufhielten. Um niemanden pauschal auszuschließen und die Vielfalt der Sinti:zze und Rom:nja in Berlin um die Jahrhundertwende anzuerkennen, wurde stets „Sinti:zze und Rom:nja“ benutzt.
In den ersten zwanzig Jahren der Z*Mission arbeiteten die Missionar:innen vor allem mit den Romanus zusammen im Wedding. Ein Grund für deren Niederlassung im Norden Berlins könnte auch mit dem damals bestehenden Pferdemarkt auf der Seestraße zusammenhängen, der allerdings in den 1920ern dem Bau der Straßenbahn weichen musste. Die Romungris waren unter anderem ansässig in Reinickendorf und Weißensee.
„Das sind nur die Kinder des einen Stammes, die wir im Zigeunerheim beschert haben – und auch längst nicht alle. Unter diesem Stamm arbeiten wir hauptsächlich. Sie vertragen sich nicht gut mit den Zigeunern des anderen Stammes, auch ihre Kinder nicht. […] Unser Stamm nennt den anderen ‚die Romungris‘. Die kleinen Romungris, deren es auch über hundert in Berlin gibt, sind zu Weihnachten recht zu kurz gekommen.“ (Die Stadtmission 1930, 15)
Erst mit der Ankunft von Missionar Kurt Süßkind in den 1930ern verlegt sich der Fokus auf die Arbeit mit den Romungris in Weißensee sowie der mobilen (Heilandswagen) wie immobilen (Sprechstunde in der Zentrale der Stadtmission) Betreuung anderen Gruppen von Sinti:zze und Rom:nja in ganz Berlin. Mit der Schließung dieses Missionszweiges 1940 und der anschließenden Deportation aller Sinti:zze und Rom:nja durch die Nationalsozialisten 1943 kommt die Arbeit der Z*Mission komplett zum Erliegen.
Chronologie der Z*Mission
Die Geschichte der Z*Mission beginnt 1910, als die Lehrerin Maria Knak während ihres privaten Nachhilfeunterrichts, den sie seit 1906 gab, den Bedarf und die Möglichkeit erkannte, eine Mission für Sinti:zze und Rom:nja im Norden Berlins zu gründen: „So sind jetzt viele, viele Zigeuner in unserer großen Stadt seßhaft [sic!] […] Sie wohnen hauptsächlich im äußeren Norden von Berlin, entweder in kleinen Häusern für sich oder in Mietswohnungen und treiben Pferdehandel“ (Blätter 1910, 65-66). Der äußere Norden war, wie bereits beschrieben, vor allem für Arbeiter:innen und ärmere Menschen Heimat.
Türkenstraße 21
Knak bat die Berliner Stadtmission um die Etablierung einer Mission und darum, als Missionarin dort angestellt zu werden. Im selben Jahr wurde eine kleine Einzimmerwohnung mit Küche in der Türkenstraße 21 als Z*Mission angemietet. Dort kamen Kinder nach der Schule zusammen, um Hausaufgaben zu machen, Schreiben und Lesen zu üben und Bibel-Unterricht zu erhalten. Sonntags fand regelmäßig ein Kindergottesdienst statt. Maria Knak verlobte sich allerdings bald darauf und trat aus ihrem Dienst als Missionarin aus. 1911 folgte Frieda Plinzner (1889-1970) als Missionarin.
Müllerstraße 100/101
1912 zog die Mission von der Türkenstraße 21 in das eigens von der Stadtmission errichtete „Zigeunerheim“ in der Müllerstraße 100/101 (im Folgenden „Z*Heim“), welches am 30. Oktober feierlich getauft und eingeweiht wurde. Ein Bericht aus dem Jahr 1929 beschreibt das Heim wie folgt: „Aber nun steht es doch da draußen in der Jungfernheide, im Hintergrund der Wald und die fahlen Sandberge – ein richtiges Missionshaus inmitten einer christlichen Heidenwelt mit einem Kreuz über dem Eingang und Bibelsprüchen an den Wänden“ (Blätter 1912, 95).