Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle

Dahlem

Hier befand sich von 1936 bis 1945 die “Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle” des Reichsgesundheitsamts. Die Forschungsstelle war hauptsächlich damit beauftragt Sinti:zze und Rom:nja zu erfassen, zu “erforschen” sowie personenbezogene Daten zu sammeln.

Das Reichsgesundheitsamt und die “Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle” (RHF)

 

Leiter des Reichsgesundheitsamts war seit 25. Juli 1933 der Bakteriologe und Hygieniker  Hans Reiter (1891-1969), der erst als kommissarischer Leiter und ab Oktober 1933 als Präsident des Reichsgesundheitsamts beauftragt wurde. Durch Reiter wurde das Reichsgesundheitsamt zunehmend nationalsozialistisch ausgerichtet. So schenkte er Adolf Hitler (1889-1945) zu seinem 50. Geburtstag ein Buch, das die Arbeit des Reichsgesundheitsamts vorstellte. Darin widmete er ein Kapitel der Arbeit der Abteilung “L” – “Erbmedizin”, wozu auch die “Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle” zählte.

Leiter dieser Forschungsstelle war ab 1936 Robert Ritter (1901-1951), der sich als Psychiater und Vertreter der NS-Rassenpolitik der “Zigeunerforschung” zuwandte. Neben Ritters engster Institutsmitarbeiterin, der Krankenschwester Eva Justin (1909-1966), arbeiteten dort die Anthropolog:innen Sophie Ehrhardt (1902-1990), Adolf Würth (1905-1997) und Karl Morawek (1911-1943) sowie die Historikerin Ruth Kellermann (1933-1999) und der Arzt Gerhart Stein (1910-1971).

Durch Pseudowissenschaft legitimierte das Amt die Forschung an Sinti:zze und Rom:nja und damit die politischen Maßnahmen zur Verfolgung und Vernichtung. Die von der Forschungsstelle systematisch durchgeführte gutachterliche Erfassung der Sinti:zze und Rom:nja fußte auf der Auffassung von Robert RitterZigeunermischlinge” seien eine Mischung aus “rassereinen Zigeunern” mit “Asozialen” oder “Minderwertigen” und deshalb Träger von Kriminalität sowie Asozialität.  Die RHF fixierte sich deshalb auf die Festellung des “Mischlingsgrades” der Sinti:zze und Rom:nja. Durch “wissenschaftliche” Untersuchungen sollte dieser festgestellt und in Gutachten vermerkt werden. Die “Lösung” für das fiktive bevölkerungspolitische “Problem” sei laut Ritter die Zwangssterilisation und Überwachung der Personen, weshalb er dazu riet, Sinti:zze und Rom:nja in Lagern zu internieren.

Die RHF kooperierte eng mit dem nahegelegenen Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie für menschliche Erblehre und Eugenik. Finanziert wurde die RHF hauptsächlich durch Drittmittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Außerdem bekam die RHF pro erstelltes Gutachten fünf Reichsmark von der Kriminalpolizei, was für die RHF eine essenzielle Einnahme war.

 

Erfassung von Sinti:zze und Rom:nja durch die “Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle” (RHF)

 

Robert Ritters Empfehlungen fanden bei der nationalsozialistischen Regierung Gehör. Mit Heinrich Himmlers (1900-1945) veröffentlichtem Runderlass zur “Regelung der Zigeunerfrage”  am 8. Dezember 1938 sollten offiziell alle Sinti:zze und Rom:nja gutachterlich erfasst und untersucht werden. Himmler wählte für die Durchführung dieser Arbeit die RHF aus, die sich in enger Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei in sog. “Fliegende Arbeitskommandos” organisierte. Die Mitarbeitenden dieser “Arbeitskommandos” wurden in das Deutsche Reich entsandt, um aktenkundige Registrierungen sowie anthropometrische Untersuchungen vorzunehmen. Bei den Untersuchungen wurden anthropologische Fotografien gemacht, Blut- und Haarproben genommen sowie Moulagen hergestellt. Darüber hinaus sollten mithilfe von Befragungen die Abstammungs- und Familienverhältnisse der Sinti:zze und Rom:nja herausgefunden werden. Oftmals wurden die Befragungen erzwungen und gingen bei Weigerung mit Gewaltandrohungen, Demütigungen und Folterungen einher.

Ergänzt wurden die Ergebnisse aus den Befragungen mit Einträgen aus Pfarr- und Bürgermeisterämtern, privaten und staatlichen Archiven sowie Polizeiakten. Aus dem gesammelten Material wurden riesige Stammbaumtafeln erstellt, die teilweise circa 800 Personennamen enthielten, und die Basis für die Gutachten bildeten, in denen Sinti:zze und Rom:nja in die Kategorien “Zigeuner” oder “Zigeunermischling” klassifiziert wurden. Die Klassifizierung bestimmte maßgeblich die Deportationen von Personen in die Konzentrationslager, die mit dem “Ausschwitzerlass” vom 16. Dezember 1944 begannen. Bis zum Kriegsende wurden insgesamt 24.000 Gutachten durch die Mitarbeitenden der RHF erstellt.

 

Die “Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle” RHF nach 1945

 

Robert Ritter und die weiteren Mitarbeitenden der “Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle” erwartete nach 1945 keine Verurteilung. Stattdessen arbeiteten Robert Ritter und Eva Justin nach Kriegsende im Gesundheitsdienst der Stadt Frankfurt am Main. Andere ehemalige Mitarbeitende der RHF nutzten für ihre Arbeit nach 1945 teilweise noch die gewaltvoll entstandenen Unterlagen der Forschungsstelle. Die fehlende Verurteilung und das weitere Nutzen von Forschungsunterlagen der RHF trugen maßgeblich dazu bei, dass die Diskriminierung von Sinti:zze und Rom:nja anhielt, Entschädigungsansprüche verweigert und die Anerkennung des Genozids der Sinti:zze und Rom:nja zunächst nicht erfolgte. So wurde erst 1982 durch jahrelange Bürgerrechtsarbeit der Völkermord der Sinti:zze und Rom:nja durch Helmut Kohl (1930-2017) anerkannt.

 

Heutiger Umgang

 

1988 gab es eine Ausstellung auf dem Gelände der ehemaligen RHF, die über die Arbeit und die Rolle der “Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle” sowie des Reichsgesundheitsamts während des Nationalsozialismus aufklärte. Sieben Jahre später, am 11. Dezember 1995, wurde in Haus 3 des ehemaligen Reichsgesundheitsamts, das heute die Bibliothek des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin ist, eine bronzene Gedenktafel angebracht.

Die Gedenktafel geht auf die Initiative von zwei Berliner Schülern, Robert Schröder und Pierre Veenhuis, zurück, die sich 1993 bei dem Wettbewerb “Deutsche Geschichte” mit der Arbeit der “Ras­se­hygieni­schen und Bevölke­rungsbiologi­schen For­schungsstelle” auseinandergesetzt haben. Zusätzlich wurde am 29. März 2019 eine Stele an der Ecke zwischen der Straße Unter den Eichen und der Boettischerstraße angebracht, die von Karin Rosenberg gestaltet und konzipiert wurde. Inhaltlich klärt die Stele über die Geschichte und grausame Arbeit der  “Ras­se­hygieni­schen und Bevölke­rungsbiologi­schen For­schungsstelle” auf. Bei der Einweihung hielten neben dem damaligen Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin, Ralf Wieland (*1956), der Bezirksstadtrat Frank Mückisch sowie die Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, Petra Rosenberg (*1952), eine Rede.

Literatur

Danckwortt, Barbara: “Berlin ohne Zigeuner!” Das Zwangslager für Sinti und Roma in Marzahn 1936–194, in: Zeitschrift für Genozidforschung, Vol. 20, No. 1, 2022, S. 37-55.

 

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma: “Rassendiagnose Zigeuner”: Der Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung, URL: https://www.sintiundroma.org/de/weg-in-den-voelkermord/erste-deportationen/, zuletzt eingesehen: 10.05.24, um 14:41.

 

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma: “Rassendiagnose Zigeuner”: Verortungen, „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ URL: https://verortungen.de/?glossary=rassenhygienische-und-bevoelkerungsbiologische-forschungsstelle, zuletzt eingesehen: 10.05.24, um 14:46.

 

Fings, Karola: Sinti und Roma, München 2016.

 

Grandke, Sarah/ Eichmüller, Andreas: Rassenhygienische Forschungsstelle, in: nsdoku.lexikon (Hg. NS-Dokumentationszentrum München), URL: https://www.nsdoku.de/lexikon/artikel/rassenhygienische-forschungsstelle-669, zuletzt eingesehen: 10.05.24, um 14:39.

 

Gedenktafeln in Berlin:  „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ URL: https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/gedenktafeln/detail/rassenhygienische-und-bevoelkerungsbiologische-forschungsstelle/3258, zuletzt eingesehen: 10.05.24, um 14:49.

 

Gedenktafeln in Berlin:  Zum Gedenken an die Opfer des Völkermords an den Sinti und Roma, URL: https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/gedenktafeln/detail/sinti-und-roma/1652, zuletzt eingesehen: 10.05.24, um 14:50.

 

Gedenkstätte Zwangslager Berlin-Marzahn e.V: Rassenhygienische Forschungsstelle, URL: https://www.gedenkstaette-zwangslager-marzahn.de/rundgang/rassenhygienische-forschungsstelle.html, zuletzt eingesehen: 10.05.24, um 14:43.

 

Hirschfeld, Gerhard/ Jersak, Tobias (Hg.): Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt/Main 2004.

 

Lotto-Kusche, Sebastian; Rassenhygenische Forschungsstelle, URL: https://www.uni-flensburg.de/fileadmin/content/seminare/geschichte/dokumente/downloads/veroeffentlichungen/hvw2-20170821-00384.pdf, zuletzt eingesehen: 10.04.24, um 14:36.

 

Schmidt-Degenhard, Tobias: Vermessen und Vernichten. Der NS-”Zigeunerforscher” Robert Ritter, Stuttgart 2012.

Zur Karte Zum Verzeichnis