Straßennarrative: Das May-Ayim-Ufer
Die Perspektive auf die Geschichte wechseln durch das Umdenken eines Erinnerungsortes
Im Februar 2010 wurde das Groebenufer an der Oberbaumbrücke in Kreuzberg in das May-Ayim-Ufer umbenannt. May Ayim (1960 – 1996) war eine Berliner Poetin und Pädagogin, die sich in ihrem schriftstellerischen und politischen Schaffen mit Kolonialismus und Rassismus auseinandersetzte.
Das Groebenufer (1895 – 2010)
Das Ufer wurde am 4. April 1895 nach dem Kolonisierenden Otto Friedrich von der Groeben (1657 – 1758) benannt. Der Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620 – 1688) erteilte ihm 1682 die Leitung einer Kolonialexpedition an die Küste Westafrikas. Das Ziel der Expedition war es, eine ständige brandenburgische Niederlassung zu errichten. Im folgenden Jahr begründete von der Groeben an der “Goldküste“ im heutigen Ghana einen Handelsstützpunkt für Brandenburg. Dieses Gebiet wurde Großfriedrichsburg genannt und wurde der erste deutsche koloniale Handelsstützpunkt in Afrika.
Die durch von der Groeben angelegte Festung diente der “Brandenburgisch- Afrikanischen Compagnie” für knapp drei Jahrzehnte als Stützpunkt für den transatlantischen Sklavenhandel. Bis zur Aufgabe der Kolonie 1717 wurden geschätzt 30.000 Menschen von Brandenburg-Preußen in die Karibik verschleppt und dort auf Sklavenmärkten verkauft. Aufgrund der Rolle, die von der Groeben für den transatlantischen Sklavenhandel gespielt hatte, wurde seine Ehrung im öffentlichen Stadtraum kritisiert. doch in anderen Städten wie Potsdam und München gibt es weiterhin eine Groebenstraße.
Der Perspektivwechsel
Ende 2007 nahm die Bezirksverordnetenversammlung in Friedrichshain-Kreuzberg den Vorschlag auf, das Ufer umzubenennen. Nach zweijährigen Diskussionen um die Verwicklung Groebens in den Sklavenhandel und die historische Faktenlage, entschied sich die Bezirksverordnetenversammlung im Mai 2009 für die Umbenennung nach der Poetin May Ayim.
May Ayim stieß in den 1980er Jahren mit ihren Werken die Rassismusdebatte in Deutschland an und setzte sich auch für die Umbenennung der M*Straße als Zeichen einer dekolonialen Erinnerungskultur ein. Sie lebte seit 1984 in Kreuzberg und war Gründungsmitglied der Initiative Schwarze Menschen e.V. in Deutschland. Der Verein möchte ein Schwarzes Bewusstsein fördern und tritt rassistischer Diskriminierung und Benachteiligungen entgegen. In Berlin lernte sie andere Schwarze Frauen kennenlernte, die sich gegen Rassismus in Deutschland einsetzten, wie die Aktivistin und Poetin Audre Lorde (1934 – 1992).
In Analogie zu “Afro-American’ entwickelte sie im Austausch mit anderen Schwarzen deutschen Frauen die Selbstbenennung “Afrodeutsch”. Somit verhandelte sie das Selbstverständnis dessen, was als Deutsch angenommen oder abgelehnt wurde, neu. Die schwarz weiße “Doppelidentität”’ vermittelte sie durch ihre Gedichte afro-deutsch I und afro-deutsch II, die 1995 in ihrem ersten Gedichtband “blues in schwarz weiss” erschienen. Am 9. August 1996 begang May Ayim mit 36 Jahren nach schweren Depressionen Suizid.
In Kreuzberg stammen viele Straßennamen aus dem kolonialpolitischen Kaiserreich und zeigen die Manifestation von patriarchalen und kolonialen Machtstrukturen im Berliner Stadtbild. Das Ufer nach May Ayim zu benennen zeigt ein Perspektivwechsel: Der Bezug zum Kolonialismus wird nicht einfach getilgt, sondern die Erinnerungsperspektive umgekehrt. Darüber hinaus wird durch die postkoloniale Perspektivumkehr nicht nur der Widerstand gegen den Kolonialismus zum Ausdruck gebracht, sondern auch der Ruf nach Selbstermächtigung gehört. Eine Gedenktafel, unterstützt von der Amadeu Antonio Stiftung, weist vor Ort auf die Umbenennung und die Geschichte Groebens hin. Das May-Ayim-Ufer zeigt exemplarisch auf, wie der eingeforderte Perspektivwechsel ohne eine Unsichtbarmachung von Geschichte möglich ist.
¨Erst mit der Umbenennung des Groebenufers in das May-Ayim-Ufer 2010 sollte es die Schwarze Community in Deutschland schaffen, sich als selbstbestimmte Teilkultur in die deutsche Nation und deren Geschichte und Gegenwart einzuschreiben.¨
Weiterführende Informationen
Ayim, May: Blues in Schwarz Weiss, Berlin 1995/2005.
Kelly, Natasha A. (2018): Über May Ayim, URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/may-ayim[Stand:02.06.2021].
Nduka-Agwu, Adibeli et al. (Hg.): Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen, Frankfurt a. M. 2010.
Oguntoye, Katharina et al. (Hg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1986/1991.
Schultz, Dagmar: Ein Leben, das wir weitertragen werden. May Ayim (1960-1996), in: Brügge, Claudia (Hg.): Frauen in Ver Rückten Lebenswelten, Bern 1999.
Verwobene Geschichten (Hg.): May Ayim, URL: https://www.verwobenegeschichten.de /menschen/may-ayim/[Stand:01.06.2021].