Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie menschliche Erblehre und Eugenik

Dahlem

Zwischen 1927 und 1945 betrieben Wissenschaftler:innen am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie (KWI-A), Forschung zur Vererbung verschiedener körperlicher und geistiger Merkmale in Berlin-Dahlem. Das KWI-A ließ sich ab 1933 bereitwillig für die politischen Zwecke des Nationalsozialismus nutzen und hat sich der Verbrechen an der Menschlichkeit im Nationalsozialismus schuldig gemacht.

Geschichte des Instituts

Am 5. September 1927 wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) in Berlin-Dahlem eingeweiht. Das KWI-A war bedeutend für das moderne Selbstverständnis der deutschen Wissenschaft sowie auch der Weimarer Republik im Allgemeinen. Als führendes und innovatives deutsches Forschungsinstitut zur Anthropologie und Humangenetik genoss es international einen guten Ruf. Das Institut verstand sich als Impulsgeber für die staatliche Bevölkerungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Die Forschung wurde anhand von Tier- und Menschenversuchen sowie anhand von kolonialen Sammlungsbeständen menschlicher Überreste durchgeführt.

Dazu gehört auch die sogenannte “S-Sammlung“: Sie wurde ab den 1880er-Jahren von Felix von Luschan (1854-1924) am Berliner Museum gesammelt. Ursprünglich befand sich die Sammlung bei der Berliner Universität, gelang jedoch durch den Gründungsdirektor des KWI-A, Eugen Fischer (1874-1967), der an der Berliner Universität lehrte, an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie. Die Sammlung umfasst mehr als 5.000 menschliche Schädel und Skelette, deren Herkunft und Geschichte größtenteils unbekannt sind. Teilweise handelt es sich angeblich um archäologische Funde, jedoch stehen einige der menschlichen Überreste in Zusammenhang mit Morden an kolonialisierten Menschen durch die Kolonialherren. Eine Zustimmung von Angehörigen wurde nicht eingeholt. Bislang konnten nur wenige der Exponate identifiziert und an die Herkunftsgesellschaften zurückgegeben werden. Der Großteil der “S-Sammlung“ befindet sich heute im Depot des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte. Bei Renovierungsarbeiten 2014 wurden menschliche und tierische Knochenfragmente gefunden, von denen man vermutet, dass diese von Untersuchungen am KWI-A stammen und gezielt vergraben wurden.

Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie im NS

Forscher:innen des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie (KWI-A) kooperierten wissentlich und freiwillig ab 1933 mit dem nationalsozialistischen Regime. Mit ihrer Forschung lieferten sie eine wissenschaftliche Legitimationsbasis für die Rassenpolitik des Nationalsozialismus und verteidigten diese auf internationalen Kongressen mit ihrer wissenschaftlichen Autorität. Zudem legitimierte das KWI-A und seine Forschenden die Rassenideologie – und somit auch die darauf aufbauende Politik der Verfolgung und Vernichtung – durch populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, die sich an die deutsche Bevölkerung richteten.

In großer Zahl bildeten sie Berufsgruppen weiter, die bei der Umsetzung dieser Politik eine wichtige Rolle spielten, vor allem Amtsärzte und Richter. Die Mitglieder des KWI-A spielten als Mitglieder in Expertenstäben und Beiräten eine tragende Rolle in der Gesetzgebung der NS-Politik mit: Fritz Lenz (1887-1976) wirkte maßgeblich bei der Entstehung des “Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, Wolfgang Abel (1905-1997) und Eugen Fischer (1874-1967) berieten bei der Entstehung des “Generalplan Ost“, welcher die Vertreibung und Vernichtung der Bevölkerung in Osteuropa plante, um “deutschen Lebensraum“ zu schaffen. Obwohl die Forscher:innen von der Legitimität ihrer Handlungen überzeugt waren, überschritten sie die Grenzen der Legalität. Auch beteiligten sie sich an der Gutachtenerstellung über Juden und Jüdinnen, Sint:izze und Rom:nja sowie sogenannten “Rheinlandbastarden”, “Fremdvölkischen” und Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Laut dem Historiker Wolfgang Schmuhl unterstanden die Wissenschaftler:innen keinem politischen Druck, diese Dienste erfolgten freiwillig.

Zusammenarbeit mit der Rassenhygienischen Forschungsstelle

Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie arbeitete eng mit der Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF) zusammen. Das KWI-A legitimierte und ermöglichte zusammen mit der RHF durch ihr Gutachten die Deportation und Vernichtung von Sinti:zze und Rom:nja. Die Verbindung der beiden Institutionen spiegelt sich in der Dissertation von Eva Justin (1909-1966), der Assistentin von Robert Ritter (1901-1951), dem Leiter der RHF wider.

Justin reichte 1943 ihre Dissertation dem KWI-A mit dem Titel “Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen“ ohne eine vorherige Betreuung durch Forschende des Kaiser-Wilhelm-Instituts ein. Dies war nur durch den Einfluss von Eugen Fischer (1874-1967) möglich, da Eva Justin keinen offiziellen Studienabschluss hatte.Eugen Fischer leitete bis 1942 das Institut, war allerdings zu dem Zeitpunkt der Dissertationseinreichung bereits emeritiert. Eva Justin führte ihre Forschung an 39 Sinti-Kindern durch, die ihren Familien zwangsentzogen wurden. Diese 39 Kinder wurden am 12. Mai 1944 in das Zigeunerlager (nachfolgend nur noch Z*lager) in Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur vier der Kinder überlebten das Lager. In ihrer Dissertation empfahl Eva Justin unter anderem die Sterilisierung und Vernichtung von Sinti:zze und Rom:nja. Ihre Promotionsschrift wird heute als höchst unethisch und unwissenschaftlich gewertet.

Verbindung des KWI-A zu Konzentrations- und Vernichtungslagern

Forschende am KWI-A nutzten menschliche Präparate für ihre Forschung, die teilweise auch aus nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern stammten. Karin Magnussen (1908-1997) erhielt über 40 Augenpaare von Sint:izze und Rom:nja aus dem Z*lager in Auschwitz-Birkenau durch ihren Kontakt zu Josef Mengele (1911-1979). Sie forschte an unterschiedlich gefärbten Augen (Heterochromie). Die dafür benötigten Humanpräparate stammten von im Lager verstorbenen Sint:izze und Rom:nja. Einige der Sint:izze und Rom:nja, von denen die Humanpräparate stammen, starben an Krankheiten, die auf die unmenschlichen Lagerbedingungen zurückzuführen sind, während andere Opfer direkter Gewalt wurden. Nur in dem Fall der Sinti Familie Melchau konnten die Opfer identifiziert werden.

Es bestand eine Verbindung des Instituts zu Josef Mengele, der ab 1943 Lagerarzt des Z*lagers in Auschwitz-Birkenau war: Mengele hatte bei Ottmar von Verschuer (1896-1969) in Frankfurt promoviert, der ab 1942 die Leitung des KWI-A übernommen hatte. Josef Mengele kam unter von Verschuers Leitung 1942 für kurze Zeit an das Institut in Berlin-Dahlem. Zudem ist auch dokumentiert, dass von Verschuer sich Blutproben aus den Konzentrationslagern schicken ließ. Wolfgang Abel (1905-1997) befasste sich mit dem Aufbau einer anthropologischen Sammlung und erhielt vermutlich dafür Skelette von jüdischen Opfern aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Insgesamt lässt sich daraus schließen, dass die Forschenden von der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten profitierten, um forschungsethische Standards zu umgehen.

Aufarbeitung und Erinnerung

Das Gebäude der Ihnestraße 22 ist heute ein Teil des Otto-Suhr-Instituts (OSI) der Freien Universität Berlin. Eine Plakette neben der Eingangstür erinnert an die Verbrechen, die dort begangen wurden. Sie wurde 1988 auf Initiative von Wissenschaftler:innen der Freien Universität angebracht. Die Max-Planck-Gesellschaft, die Nachfolgeinstitution der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, äußerte damals Bedenken. Zuvor hatten schon Angehörige des Instituts eine Plakette ohne die Erlaubnis der Universität angebracht. Die Plakette ist jedoch relativ klein und wird schnell übersehen.

2017 gelang es einer Studierenden-Initiative des Otto-Suhr-Instituts, einen Arbeitsbereich einzufordern, der sich mit der Geschichte des Ortes befasst und die Ihnestraße 22 in einen dauerhaften Erinnerungsort transformiert. Unter der Leitung von der Historikerin Dr. Manuela Bauche begannen 2019 die Arbeiten. Im Herbst 2024 soll der “Erinnerungsort Ihnestraße 22“ eröffnet werden.

Literatur

  • Bauche, Manuela / Marshall, Danna / Strähle, Volker: Das Projekt Geschichte der Ihnestraße 22. Auf dem Weg zu einem Erinnerungsort zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem. In: Bee, Julia / Hallmann, Lilli, / Klemstein, Franziska / Noeske, Jannik: Auf dem Weg zum Erinnerungsort. Das Gebäude der NS-Medizinbürokratie in Weimar. Weimar 2024.
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  • Jöbstl, Birgit: Um etwas zurückzugeben, muss man wissen, woher es stammt. Interview mit Bernhard Heeb. 18.08.2017. Abrufbar im Internet: URL: https://www.spkmagazin.de/um-etwas-zurueckzugeben-muss-man-wissen-woher-es-stammt.html.
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  • Kraus, Elisabeth: Josef Mengele. 14.02.2024. In: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München. Abrufbar im Internet: URL: https://www.nsdoku.de/lexikon/artikel/mengele-josef-546. Zuletzt eingesehen: 12. Juni 2024.
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